Mehrschichtige Gesellschaften?

Kategorien: Ausgabe 64, Verhalten

Eine Gruppe Westlicher Flachlandgorillas trifft auf einer Lichtung einen jungen Silberrückenmann. (© Vidrige Kandza/WCS Kongo)

Mehrschichtige Gesellschaften bei Primaten bestehen aus stabilen zentralen Einheiten, die sich zu größeren Gruppen zusammenfinden können. Solche Strukturen gibt es bei manchen Pavianarten, bei Schlank- und Stummelaffen sowie beim Menschen.

Einige Wissenschaftler schlagen vor, auch die Sozialsysteme mancher Menschenaffen zu den mehrschichtigen Gesellschaften zu zählen. Bisher wurden Orang-Utans als semi-solitär betrachtet und Gibbons als paarlebend. Gorillas leben in Gruppen mit einem Mann und mehreren Frauen, Schimpansen und Bonobos in einem Fission-Fusion-System (vorübergehendes Aufspalten einer sozialen Gruppe in kleinere Untergruppen) mit wechselnd zusammengesetzten Untergruppen.

Westliche Gorillas interagieren bei Treffen mit anderen Gruppen häufig nicht aggressiv, sie nutzen die gleichen Nahrungsquellen, bauen ihre Nester in der Nähe und spielen mit Gruppenfremden.

Bei den Berggorillas der Virungas verläuft etwa ein Fünftel der Begegnungen zwischen Gruppen friedlich. Dabei ist entscheidend, ob die Tiere sich kennen, z. B. weil die beiden Gruppen durch Aufsplitten einer Gruppe entstanden sind, und ob sie sich im Randbereich oder im Zentrum des Streifgebiets treffen. In Bwindi verhalten sich Gorillas bei solchen Begegnungen in den meisten Fällen leicht aggressiv, weniger häufig ist tolerantes Verhalten.

Bei Bonobos können Begegnungen zwischen Gemeinschaften mehrere Tage dauern. Dabei wechseln manchmal Frauen von einer Gemeinschaft zu einer anderen, was dazu beitragen könnte, dass zukünftige Begegnungen friedlich verlaufen. Diese Toleranz könnte als Basis für die Bildung einer mehrschichtigen Gesellschaft betrachtet werden. Allerdings sind die Verbände nicht von Dauer, sodass das Sozialsystem der Bonobos nicht als mehrschichtige Gesellschaft im engeren Sinn bezeichnet werden kann.

Bei den Schimpansen bilden Mütter mit ihren jüngeren Kindern stabile Einheiten; die nächstgrößeren Einheiten ("parties") sind jedoch nicht stabil. Die häufigen Trennungen und Wiedervereinigungen passen nicht zum Konzept einer mehrschichtigen Gesellschaft, die sich durch eine sehr stabile Zusammensetzung der Untergruppen auszeichnet.

Der Begriff "mehrschichtige Gesellschaft" sollte nur für geschlossene und stabile Einheiten innerhalb einer relativ stabilen größeren Gesellschaft verwendet werden. Obwohl einige Voraussetzungen für mehrschichtige Systeme bei manchen Menschenaffen vorkommen, reicht dies nicht für eine solche Klassifizierung aus.

Für die Sozialsysteme von Bonobos, Berggorillas, Westlichen Gorillas und Gibbons schlagen wir die Bezeichnung "gruppenübergreifende Organisation" vor, um die toleranten Beziehungen zwischen Gruppen zu beschreiben, die zusätzlich von verwandtschaftlichen Bindungen verstärkt werden können.

Originalveröffentlichung
Grueter, C. C. & Wilson, M. L (2021): Do we need to reclassify the social systems of gregarious apes? Evolutionary Anthropology 30 (5), 316-326